Coronavirus-FAQ

Hilfe zur Erziehung - Ambulant

Derzeit stellt sich bei allen öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe die Frage, inwieweit persönliche Kontakte zwischen den Fachkräften und den von ihnen betreuten Familien noch aufrecht erhalten werden können und welche alternativen Formen der Hilfeerbringung es gibt, um einen vollständigen Kontaktabbruch zu vermeiden. Wie in vielen anderen Lebensbereichen auch bedarf es bei der Entscheidung für oder gegen persönliche Kontakte einer verantwortungsvollen Abwägung. Diese muss sowohl dem Ziel gerecht werden, unnötige Kontakte und damit Ansteckungsmöglichkeiten zu reduzieren und andererseits den Risiken Rechnung tragen, die gerade in Krisenzeiten in Familien mit pädagogischem Unterstützungsbedarf in erhöhtem Maß bestehen. Insbesondere in Familien, in denen die Fachkräfte eine Kindeswohlgefährdung wahrnehmen oder befürchten, kann die Aufrechterhaltung von persönlichen und ggf. auch analogen Kontakten ein wichtiger Beitrag zum Schutz des Kindes sein.

Aufgrund der erneut gestiegenen Infektionszahlen, haben die Bundesländer erneut Kontaktbeschränkungen erlassen. Die für Ansammlungen und private Veranstaltungen geltenden Kontaktbeschränkungen finden ua keine Anwendung auf Ansammlungen, die der „sozialen Fürsorge“ dienen (vgl. zB § 1a Abs. 2 S. 2 Corona-VO BW) bzw. auf „berufliche und dienstliche Tätigkeiten, (…) bei denen ein Zusammenwirken mehrerer Personen zwingend erforderlich ist (vgl. § 4 Abs. 2 der 11. Bayerische Infektionsschutzmaßnahmen-VO). Unter diese Formulierungen lassen sich Zusammenkünfte einer SPFH mit der von ihr betreuten Familie fassen, so dass ein persönlicher Kontakt sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum rechtlich zulässig ist. Insbesondere wenn bspw. aufgrund der Wohnsituation der Familie Bedenken gegenüber Hausbesuchen bestehen – etwa weil der notwendige Abstand nicht eingehalten werden kann, sollte dennoch erwogen werden, ob Treffen zwischen einer Fachkraft und der Familie an wenig frequentierten Orten im öffentlichen Raum unter Einhaltung von Abständen trotz der winterlichen Temperaturen vorzugswürdig sind (Die Regeln in den Bundesländern, Stand: 21.1.2021).

Grundsätzlich sollten solche Wünsche der Familien respektiert werden. Der Zutritt kann ohnehin nicht erzwungen werden. Zudem dürfte eine fachgerechte, vertrauensbasierte Erbringung der Hilfe kaum möglich sein, wenn die Fachkraft nur infolge von Überredung gegen den ursprünglichen Wunsch der Familie in das häusliche Umfeld eingelassen wird.

Soweit und solange dies möglich ist, sollte aber versucht werden, den Kontakt an anderen Orten bzw. in anderer Form aufrecht zu erhalten (s. dazu die vorhergehende Frage ).

Wird ein persönlicher Kontakt zwischen Fachkraft und Familie zum Schutz vor Ansteckung als nicht mehr verantwortbar eingeschätzt und/oder lässt es der Hilfebedarf der Familie zu, sollten alternative Wege der Hilfeerbringung in Betracht gezogen werden (s. zur Nutzung von WhatsApp und sozialen Netzwerken im Internet durch Fachkräfte des Jugendamts DIJuF-Rechtsgutachten DRG-1256 und Fragen unter der Rubrik Datenschutz).

Messenger-Dienste (wie zB WhatsApp) dürften hierzu – auch unabhängig von datenschutzrechtlichen Erwägungen – nur bedingt geeignet sein, da die Vermittlung ausführlicherer Zusammenhänge in Form von Kurznachrichten mühsam und anfällig für Missverständnisse ist. Wichtige Teile der Kommunikation gehen ganz verloren. Hilfreicher kann die Aufrechterhaltung des Kontakts per Telefon sein. Dieser ist durch das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) geschützt und datenschutzrechtlich nicht bedenklich.

Die effektivste Alternative zum persönlichen Kontakt dürfte jedoch die Durchführung von Videokonferenzen darstellen. Der Fachkraft ist es dabei möglich, nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch Mimik und Gestik der Beteiligten, sichtbare Auffälligkeiten sowie die Atmosphäre zwischen den Gesprächsteilnehmer*innen in der Familie wahrzunehmen. Inzwischen dürften die Fachkräfte ebenso wie die Jugendhilfeträger einige Erfahrungen mit dieser Form des Kontakts zu den Klient*innen gemacht haben, so dass sie besser als zu Beginn der Pandemie einschätzen können, in welchen Situationen und mit welchen Familien Videokontakte einen effektiven Ersatz zu persönlichen Zusammentreffen darstellen können.

Um der folgenschweren Problematik in Familien, die sich in der aktuellen Situation aufgrund der einzuhaltenden Isolation und des Wegfalls anderweitiger Unterstützung nicht selbst ausreichend versorgen können, zu begegnen, kommt eine niedrigschwellige Unterstützung durch den Einsatz von Honorarkräften in Betracht. Insbesondere Familien, in denen bereits ambulante Hilfen erbracht werden, die jetzt unterbrochen oder in geringerer/abgeänderter Form erbracht werden, sowie Familien, die Erziehungsberatung in Anspruch nehmen, aber auch Familien, in denen sich in der aktuellen Situation Bedarfe ergeben, bedürfen jetzt schneller und unbürokratischer Hilfe. Durch telefonische Anbindung der Familie und Sicherstellung der Versorgung kann sozialer Isolation und Krisensituationen vorgebeugt werden. Die Honorarkräfte haben Unterstützungs- und Beratungs- sowie Lotsenfunktion, um weitergehende Kontakte und Hilfestellungen zu vermitteln. Liegt ein erzieherischer Bedarf vor, dem auf diese Weise begegnet werden kann, ist die Leistung als atypische Hilfe nach § 27 Abs. 2 S. 2 SGB VIII zu gewähren. Die Vorschrift ermöglicht passgenaue Hilfe zur Erziehung (HzE).

Liegt kein erzieherischer Bedarf vor, geht es mithin allein um Versorgung und präventive Unterstützung, ist die Vorschrift des § 20 SGB VIII (Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen) heranzuziehen. Ziel dieser familienunterstützenden Hilfe ist, dem Kind in Notfällen den familiären Versorgungsbereich zu erhalten. Die Art der Hilfe richtet sich nach dem konkreten Einzelfall. Nach hier vertretener Auffassung kommen alle Hilfen zur Haushaltsführung sowie alle Formen erzieherischer Unterstützung in Betracht. Derzeit kann man die Vorschrift nach Meinung des Instituts auch auf Jugendliche anwenden, da auch diese sich in der aktuellen Ausnahmesituation nicht selbst versorgen können. Beide Hilfearten – HzE nach § 27 Abs. 2 S. 2 SGB VIII und Hilfe nach § 20 SGB VIII –  ermöglichen eine bedarfsangemessene atypische Leistung im jeweiligen Einzelfall. Besonders betroffen sind in der derzeitigen Ausnahmesituation auch die Kinder psychisch kranker Eltern. Besteht aufgrund der psychischen Erkrankung des Elternteils ein erzieherischer Bedarf, kann die Unterstützung durch telefonische Anbindung und Versorgung als HzE, auch neben einer anderen HzE, gewährt werden. Fällt ein Elternteil aufgrund seiner psychischen Erkrankung in der Betreuung und Versorgung des Kindes aus, bspw. weil er gerade dieser Ausnahmesituation nicht gewachsen ist oder hierdurch verstärkt Ängste oder Depressionen auftreten, ohne dass von einem erzieherischen Defizit auszugehen ist, kommt eine Unterstützung nach § 20 SGB VIII in Betracht.

Im Infektionsschutzgesetz wurde mit der sog. Bundesnotbremse geregelt, dass sich bei einer Inzidenz von über 100 ein privater Haushalt nur mit einer weiteren Person treffen darf (§ 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG). Diese gilt aber nur für private Kontakte. Daher ergeben sich nach Einschätzung des Instituts aus den Bestimmungen im Infektionsschutzgesetz keine pauschalen Auswirkungen auf die Zulässigkeit der Erbringung ambulanter Hilfen.

Bei der Entscheidung, in welcher Art und Weise Hilfe zur Erziehung erbracht wird, kommt es immer auf den konkreten Einzelfall und den jeweiligen individuellen Bedarf an (s. ausführlich Beckmann/Lohse Jugendhilfe 2021, 191, 198). Es ist also stets im konkreten Fall zu überlegen, in welcher Form der Kontakt mit den Beteiligten aus dem Familiensystem so gehalten werden kann, dass einerseits der Hilfebedarf gedeckt wird und andererseits dem Infektionsschutz aller Beteiligten in möglichst großem Umfang entsprochen werden kann. Auch die Dynamik des Infektionsgeschehens und regionale Schwankungen sowie divergierende regionale Regelungen können bei der Entscheidung eine Rolle spielen. Eine pauschale Aussetzung der Hilfen im persönlichen Kontakt und Beschränkung auf digitale Beratungsangebote ist nach Auffassung des Instituts weder infektionsschutzrechtlich gefordert noch mit der fachlich erforderlichen und rechtlich zulässigen Art der Aufgabenerfüllung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vereinbar. Inzwischen schließen auch landesrechtliche Regelungen – soweit ersichtlich – die Hilfeerbringung im persönlichen Kontakt nicht mehr pauschal aus.