Coronavirus-FAQ

Kinderschutz

Wird bspw. eine Betriebserlaubnis für eine Einrichtung zur Erbringung von stationären Jugendhilfeleistungen nach §§ 27, 34 SGB VIII erteilt, erstreckt sich diese nicht auf die Unterbringung im Rahmen einer Inobhutnahme (ION) nach § 42 SGB VIII. Die Unterbringung im Rahmen einer ION als Eil- und Gefahrenabwehrmaßnahme und das während der ION durchzuführende Clearing führen zu anderen Anforderungen bspw. im Hinblick auf den Personalschlüssel oder die Qualifikation der Fachkräfte, die vor Erteilung der Betriebserlaubnis für eine ION-Stelle zu prüfen wären. Es ist also nicht ohne weiteres möglich, da nicht von der Betriebserlaubnis gedeckt, Minderjährige im Rahmen der ION in einer Einrichtung unterzubringen und von den Fachkräften einer Einrichtung betreuen zu lassen, die normalerweise nur Leistungen nach §§ 27, 34 SGB VIII erbringt. Soweit die Einrichtung selbst über Fachkräfte verfügt, die für die besonderen Aufgabenstellungen im Rahmen einer ION qualifiziert sind, kann aber im Einzelfall unter Notstandsgesichtspunkten von den formalen Anforderungen abgesehen werden. Zudem wäre an eine kurzfristige Erweiterung der Betriebserlaubnis zu denken.

Soweit es darum geht, dass nur die Räumlichkeiten der Einrichtung für die Unterbringung der Minderjährigen genutzt werden sollen, weil aufgrund der Pandemie keine anderweitige Unterbringungsmöglichkeit besteht, die Betreuung während der ION aber durch externe hierfür geeignete Fachkräfte übernommen wird, ist diese Unterbringung aus Sicht des Instituts dagegen unproblematisch. Hierfür bedarf es keiner Erweiterung der Betriebserlaubnis.

Nach § 76 Abs. 1 SGB VIII dürfen anerkannte Träger der freien Jugendhilfe an den Aufgaben der Inobhutnahme (ION) nach § 42 SGB VIII beteiligt oder ihnen diese Aufgaben zur Ausführung übertragen werden. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe trägt weiterhin die Gesamtverantwortung dafür, dass die Aufgabe sachgerecht erfüllt wird (§ 76 Abs. 2 SGB VIII).

Der Verwaltungsakt (VA) der ION selbst kann jedoch nicht auf den freien Träger übertragen werden, weil es sich hierbei um hoheitliche Befugnisse handelt. Möglich ist allein die Beteiligung an bzw. die Übertragung von Aufgaben, die ohne die Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse erfüllt werden. Dazu zählt etwa:

- die Klärung mit dem Kind oder Jugendlichen,

- die Klärung mit den Personensorge- und Erziehungsberechtigten (§ 42 Abs. 3 SGB VIII),

- die Ausübung der sorgerechtlichen Befugnisse während der ION (§ 42 Abs. 2 SGB VIII),

- die Sicherstellung der zielgruppenspezifischen Unterbringungsmöglichkeiten (§ 42 Abs. 1 S. 2 SGB VIII),

- der Transport in die Unterbringung,

- die Betreuung des Kindes in der ION-Einrichtung sowie

- alle weiteren sozialpädagogischen Aufgaben im Rahmen der Krisenintervention (s. DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2010, 173 sowie DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2006, 32 [33]).

Freie Träger und Jugendamt können also grundsätzlich gemeinsame Notdienste organisieren. Wichtig ist dabei, sicherzustellen, dass die Frage des „Ob“ der Inobhutnahme stets von einer Fachkraft des Jugendamts entschieden wird.

Die Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und freiem Träger ist den Eltern und dem Kind transparent darzulegen. Nach Möglichkeit sollte die Zustimmung der Eltern und ggf. der/des selbst einwilligungsfähigen Jugendlichen für einen Datenaustausch zwischen Jugendamt und freiem Träger bezogen auf die Aufgaben im Rahmen des Notdiensts eingeholt werden. Ansonsten ist strikt darauf zu achten, dass nur die Informationen ausgetauscht werden, die der andere zur Wahrnehmung seiner Aufgabe zwingend benötigt. Die Weitergabe von Informationen durch den freien Träger an das Jugendamt zur Abwendung von Gefährdungssituationen für das Wohl des Kindes bzw. des/der Jugendlichen ist zulässig (§ 8a Abs. 4 SGB VIII iVm § 4 Abs. 3 KKG; ggf. – je nach freiem Träger - auch aufgrund einer Befugnis aus kirchlichem Datenschutzrecht oder aus dem jeweiligen LDSG; ggf. nach dem Rechtsgedanken des rechtfertigenden Notstands aus § 34 StGB).

Für die im Fall der Übertragung von Aufgaben aus dem Bereich der ION auf freie Träger abzuschließenden Vereinbarungen macht das Gesetz keine Vorgaben, sodass die Vertragsparteien grundsätzlich frei sind, sachangemessene Regelungen zu treffen (FK-SGB VIII/Münder, 8. Aufl. 2019, SGB VIII § 76 Rn. 9).

In Fällen, in denen es darum geht, im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung bzw. der Gefährdungseinschätzung bei einer (möglichen) Kindeswohlgefährdung Informationen bei der betroffenen Familie einzuholen bzw. das Kind und die Erziehungsberechtigten in die Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII einzubeziehen, ist von Folgendem auszugehen: Grundsätzlich kann der Zutritt zur Wohnung nicht erzwungen werden. Es sollte versucht werden, den Kontakt auf andere Weise bspw. telefonisch, digital oder bei einem Treffen mit einem Elternteil im Freien herzustellen (s. entsprechende FAQ unter der Rubrik Hilfen zur Erziehung - Ambulant). Wenn die Eltern den Zugang zur Wohnung und damit auch zum Kind nicht zulassen, ist zunächst an diesem Widerstand zu arbeiten und zu versuchen, die Mitwirkungsbereitschaft herzustellen. Es obliegt der fachlichen Einschätzung im konkreten Einzelfall, wieviel Zeit den Eltern hierfür eingeräumt werden kann (FK-SGB VIII/Meysen, 8. Aufl. 2019, SGB VIII § 8a Rn. 13; insgesamt zum Hausbesuch DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2015, 83).

Anders ist dies zu beurteilen, wenn der Hausbesuch – unmittelbarer Eindruck vom Kind und seiner persönlichen Umgebung, § 8a Abs. 1 S. 2 SGB VIII aE – im Einzelfall zwingend erforderlich ist, um die Gefährdung einzuschätzen bzw. abzuwenden. Verweigern die Eltern in einem solchen Fall den Zutritt zur Wohnung und wirken sie insoweit an der Gefährdungseinschätzung nicht mit, ist nach § 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII das Familiengericht anzurufen. Kann eine Entscheidung des Gerichts bei Bestehen einer dringenden Gefahr nicht abgewartet werden, ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind in Obhut zu nehmen (§ 8a Abs. 2 S. 2 SGB VIII iVm § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII). Notfalls ist die Polizei im Wege der Amtshilfe hinzuzuziehen (§ 8a Abs. 3 S. 2 SGB VIII).

Für ärztliche Untersuchungen – zu denen auch der Test auf eine Infektion mit dem Coronavirus gehört – und medizinische Behandlungen ist grundsätzlich die Einwilligung der Personensorgeberechtigten erforderlich (Gesundheitssorge als Teil der Personensorge, § 1626 Abs. 1 BGB). Sofern allerdings Einwilligungsfähigkeit – Einsichts- und Urteilsfähigkeit bezüglich einer mit einer bestimmten Handlung/Unterlassung zusammenhängenden Beeinträchtigung von Rechtsgütern (unabhängig von einem bestimmten Alter, bezogen auf den konkreten Einzelfall) – vorliegt, kann die Einwilligung nur durch den*die Minderjährige*n selbst erteilt werden. Soweit der*die konkrete Minderjährige im Hinblick auf die Durchführung des Corona-Tests als einwilligungsfähig angesehen wird, kann der Test nur mit der persönlichen Einwilligung durchgeführt werden. Dies gilt nach Auffassung des Instituts sowohl hinsichtlich des Corona-Tests durch den Arzt als auch bezüglich des Schnelltests. Zu beachten ist, dass Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung deren Freiwilligkeit ist. Muss ein Kind oder ein*e Jugendliche*r bei einer Bitte um ION befürchten, dass ohne negativen Corona-Test keine Unterbringung erfolgen kann, steht die Freiwilligkeit der Einwilligung in Frage.

Im Fall einer ION ist das Jugendamt im Rahmen der sogenannten Notkompetenz zur Vornahme bestimmter Rechtshandlungen berechtigt, zu denen auch die Einwilligung in die Durchführung eines Corona-Tests zählen kann. Allerdings ist die Notkompetenz des Jugendamts eng auszulegen und auf unaufschiebbare, unbedingt notwendige Entscheidungen unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Eltern zu beschränken. Eine Notwendigkeit in diesem Sinne kann insbesondere dann angenommen werden, wenn das Kind coronaspezifische Symptome aufweist oder Kontakt mit einer infizierten Person hatte. Aber auch allgemein kann die Notwendigkeit, über eine geeignete Form der Unterbringung zu entscheiden und dabei auch Personal und andere Jugendliche zu schützen im Zusammenspiel mit den inzwischen verbesserten Testkapazitäten dazu führen, dass eine Testung vor der Unterbringung als erforderlich angesehen wird. Gleichwohl ist stets einzelfallabhängig über die Durchführung des Tests zu entscheiden, wobei auch zu berücksichtigen ist, ob dem Kind die Testung in der ohnehin belastenden Situation zumutbar ist. Insoweit bedarf es der engen fachlichen Begleitung.

Grundsätzlich gilt (aufgrund der Verpflichtung zur Unterbringung im Rahmen der ION, die unabhängig vom Vorliegen einer Corona-Infektion besteht), dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe auch die Möglichkeiten zur Aufnahme in eine Einrichtung ohne negativen Corona-Test und auch im Fall einer Infektion der Minderjährigen vorhalten muss (ausführlich zum Ganzen DIJuF-Rechtsgutachten SN_2020_1214; vgl. auch FAQ Rubrik Hilfen zur Erziehung – Stationär; FAQ Rubrik Kinderschutz).

Nach Berichten aus der Praxis haben Eltern bzw. Kinder Quarantänebescheide erhalten, in denen ihnen eine Inobhutnahme (ION) für den Fall angedroht wurde, dass die angeordnete Quarantäne nicht eingehalten wird.

Aus rechtlicher Sicht ist eindeutig, dass eine ION allein aufgrund nicht eingehaltener Quarantäne rechtswidrig wäre. Die jugendhilferechtliche Eilmaßnahme nach § 42 SGB VIII ist eine Schutzmaßnahme im Hinblick auf ein bestimmtes Kind. Es ist nicht Aufgabe des Jugendamts, Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung durchzuführen. Dies ist vielmehr Aufgabe der Gesundheitsbehörden, die unter den Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 IfSG im Extremfall eine Absonderung in einem geeigneten Krankenhaus anordnen könnten. Das Jugendamt hingegen ist allein unter den Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 S. 1 SGB VIII zur ION berechtigt und verpflichtet, also entweder auf Bitte eines Kindes oder eines*einer Jugendlichen (Nr. 1) oder bei Vorliegen einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl, die die ION erfordert, wenn die Eltern nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (Nr. 2) sowie im Fall der unbegleiteten Einreise eines*einer ausländischen Minderjährigen (Nr. 3). Im Zusammenhang mit einer nicht eingehaltenen Quarantäne eines*einer Minderjährigen wäre allenfalls eine ION denkbar, wenn das Kind bspw. schwer erkrankt ist und die Eltern eine notwendige ärztliche Behandlung verweigern. Ein anderer denkbarer Fall wäre, wenn bspw. ein*e Jugendliche*r um ION bittet, weil er*sie selbst sich an die Anordnungen des Gesundheitsamts halten will, die Eltern dies aber nicht mittragen. In beiden geschilderten Fällen geht es aber nicht um die Frage der Einhaltung der Quarantäne für sich genommen, sondern würden die eigentlichen ION-Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB VIII vorliegen.