KJSG - FAQ
Hilfen aus einer Hand
Ab 2021: Stufe 1
§ 7 Abs. 2 SGB VIII
(2) Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und junge Menschen mit Behinderungen im Sinne dieses Buches sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und junge Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
§ 35a Abs. 1 S. 1 SGB VIII
(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
[…]
Bis zum Inkrafttreten des KJSG fanden sich abweichende Behinderungsbegriffe im SGB VIII und im SGB IX. § 2 SGB IX war bereits durch das BTHG an das auf Wechselwirkungen fokussierte Behinderungsverständnis in der UN-BRK angepasst worden. Diese Diskrepanz führte zu kontroversen Diskussionen darüber, wie sich die Abweichung in beiden Gesetzen auf das SGB VIII auswirkt. Teilweise wurde formal darauf abgestellt, dass nach der Vorrang-Nachrang-Regelung des § 7 SGB IX das Begriffsverständnis des SGB IX dem des SGB VIII nicht vorgehe, andere argumentierten für eine UN-BRK-konforme Auslegung des Teilhaberechts im SGB VIII (vgl. zur Diskussion mit Nachw. Meysen ua/Schönecker Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG, 2022, 65 [77]).
Seitdem das KJSG gilt, findet sich im ersten Kapitel mit der Überschrift „Allgemeine Vorschriften“ dem SGB VIII vorangestellt eine Begriffsbestimmung von Behinderung, die das Verständnis der UN-BRK in das SGB VIII aufnimmt (§ 7 Abs. 2 SGB VIII). Gleichzeitig hat der Gesetzgeber aber trotz vielfacher Kritik der Fachverbände und des Bundesrats an der starren Kausalität zwischen der „Abweichung der seelischen Gesundheit“ und der Teilhabebeeinträchtigung gem. § 35a Abs. 1 S. 1 SGB VIII festgehalten und so dafür gesorgt, dass nach dem jeweiligen Wortlaut in § 7 Abs. 2 SGB VIII bzw. § 35a Abs. 1 S. 1 SGB VIII die für das SGB VIII grundlegende Definition von dem Verständnis in § 35a SGB VIII abweicht. Der Gesetzgeber hat dies damit gerechtfertigt, auf die hinsichtlich der 3. Reformstufe 2028 ausstehenden Diskussionen nicht vorgreifen zu wollen. Aus dieser ausdrücklichen Weigerung, die Kritik im Gesetzgebungsprozess aufzunehmen, wird nun zT geschlossen, dass für eine völkerrechtskonforme Auslegung des § 35a SGB VIII kein Raum mehr sei (Meysen ua/Schönecker 65 [78]).
Vor dem Hintergrund, dass sich der Gesetzgeber durch die Ratifikation der UN-BRK auch zu einer menschenrechtskonformen Ausgestaltung seines Sozialleistungssystems verpflichtet hat, gilt dennoch, dass Jugendämter in der Zeit bis zur Umsetzung der „Großen Lösung“ bei der Beurteilung der Teilhabebeeinträchtigung eine Perspektive einnehmen sollten, die die Wechselwirkungen zwischen individueller Beeinträchtigung und Umweltbarrieren nicht gänzlich außer acht lässt. Angesichts des klaren Wortlauts in § 35a Abs. 1 SGB VIII ist aber jedenfalls dann keine Eingliederungshilfe zu gewähren, wenn Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf gesellschaftliche Benachteiligungen zurückzuführen sind. Es bedarf zumindest einer Mitursächlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung durch die festgestellte psychische Störung (vgl. hierzu auch: DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2022, 34 [36]).
§ 35a Abs. 1a S. 4 SGB VIII
(1a) […] Enthält die Stellungnahme auch Ausführungen zu Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 [dh zur (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung], so sollen diese vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen seiner Entscheidung angemessen berücksichtigt werden. […]
§ 17 Abs. 2 S. 3 SGB IX
(2) […] Die in dem Gutachten getroffenen Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf werden den Entscheidungen der Rehabilitationsträger zugrunde gelegt. […]
Dem zweigeteilten Tatbestand des § 35a Abs. 1 SGB VIII folgend ist eine Arbeitsteilung dahingehend vorgesehen, dass der*die Ärzt*in/Psychotherapeut*in das Vorliegen einer seelischen Störung beurteilt und das Jugendamt das Vorliegen bzw. Drohen einer Teilhabebeeinträchtigung. Seit Inkrafttreten des KJSG wird durch den neuen § 35a Abs. 1a S. 4 SGB VIII klar gestellt, dass im Regelfall etwaige Ausführungen des*der Ärzt*in/Psychotherapeut*in zur Teilhabebeeinträchtigung angemessen in der Einschätzung des Jugendamts berücksichtigt werden sollen. Dies dürfte längst übliche Praxis vieler Jugendämter gewesen sein, allein schon deshalb, weil die aus ärztlicher/psychologischer Pespektive getroffenen Einschätzungen eine wertvolle Ressource darstellen können. In der Begründung zum Regierungsentwurf wird jedoch ausdrücklich klargestellt, dass mit dieser Regelung „das Entscheidungsprimat des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe und seine Steuerungsverantwortung […] mit dieser Regelung nicht relativiert“ werden (BT-Drs. 19/26107, 84).
Für die Jugendämter bedeutet dies, dass die Auseinandersetzung mit den in der Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII getroffenen Feststellungen zum Teilhabebedarf in der Akte dokumentiert werden, insbesondere, wenn das Jugendamt zu anderslautenden Einschätzungen kommt. Eine Bindung an die Ausführungen des*der Gutachter*in ist damit aber nicht verbunden.
Leider nicht geklärt in diesem Zusammenhang hat der Gesetzgeber die Frage, wie die Vorgaben in § 35a Abs. 1a S. 4 SGB VIII mit denen in § 17 Abs. 2 S. 3 SGB IX in Einklang gebracht werden sollen. Nach Auffassung des Instituts ist § 17 SGB IX grundsätzlich auch auf Stellungnahmen iSd § 35a Abs. 1a SGB VIII anwendbar (vgl. DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2021, 460 [461]; so auch: Meysen ua/Schönecker Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG, 2022, 65 [80]; für eine analoge Anwendung Wiesner/Eschweiler LVR-Jugendhilfereport 1.20, 31 [34]; dagegen: Grünenwald ZKJ 1/2022, 6 [7], BAG Landesjugendämter Arbeitshilfe Nr. 140, 2019, 16, abrufbar unter www.bagljae.de/content/empfehlungen/). Die mit der 2. Reformstufe des BTHG zum 1.1.2018 in Kraft getretene Vorschrift sieht vor, dass die im Gutachten getroffenen Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf zugrunde gelegt werden. Dies legt eine Bindung des leistenden Trägers nahe, die nach § 35a Abs. 1a S. 4 SGB VIII aber gerade nicht besteht (s. o.). Für die Handhabung durch die Jugendämter folgt daraus für den Normalfall, in dem eine umfassende eigene Expertise zur Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung vorhanden ist (zu dieser Differenzierung: Meysen ua/Schönecker 80), dass es bei der Pflicht bleibt, die entsprechenden Feststellungen des*der Gutachter*in lediglich angemessen zu berücksichtigen.
2024 bis 2027: Stufe 2
§ 10b SGB VIII (Inkrafttreten: 1.1.2024, Außerkrafttreten: 1.1.2028)
(1) Junge Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe wegen einer Behinderung oder wegen einer drohenden Behinderung geltend machen oder bei denen solche Leistungsansprüche in Betracht kommen, sowie ihre Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigten haben bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung dieser Leistungen Anspruch auf Unterstützung und Begleitung durch einen Verfahrenslotsen. Der Verfahrenslotse soll die Leistungsberechtigten bei der Verwirklichung von Ansprüchen auf Leistungen der Eingliederungshilfe unabhängig unterstützen sowie auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirken. […]
(2) Der Verfahrenslotse unterstützt den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen in dessen Zuständigkeit. Hierzu berichtet er gegenüber dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe halbjährlich insbesondere über Erfahrungen der strukturellen Zusammenarbeit mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen, insbesondere mit anderen Rehabilitationsträgern.
§ 32 Abs. 1 und 2 SGB IX
(1) Zur Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Menschen fördert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine von Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige ergänzende Beratung als niedrigschwelliges Angebot, das bereits im Vorfeld der Beantragung konkreter Leistungen zur Verfügung steht. Dieses Angebot besteht neben dem Anspruch auf Beratung durch die Rehabilitationsträger.
(2) Das ergänzende Angebot erstreckt sich auf die Information und Beratung über Rehabilitations- und Teilhabeleistungen nach diesem Buch. […]
Der geplante Verfahrenslotse erweitert sowohl die EUTB wie auch andere Beratungsangebote (vgl. auch § 106 SGB IX). In Abgrenzung zu Beratungsangeboten anderer Sozialleistungssysteme ist der Lotse zum einen ebenso wie die Beratung nach § 10a SGB VIII kinder- und jugendspezifisch ausgerichtet, dh, er ist auf die Bedarfslage von jungen Menschen mit Behinderung und ihren Familien spezialisiert.
Gegenüber der neutralen Beratung nach § 32 SGB IX ist die strukturelle und personelle Grenzziehung zwischen Jugendhilfeträger (JHT) und Lotse nicht eindeutig normiert. Die Lotsen- und Beratungsfunktion nach § 10b SGB VIII wird daher nicht auf gänzlich (von Interessen des JHT) unabhängige Beratung ausgerichtet sein. Schließlich sieht § 10b SGB VII für den Lotsen zwei Aufgaben in Personalunion vor, einerseits die (möglichst unabhängige) Beratung der Leistungsberechtigten (Absatz 1) und andererseits die Unterstützung des JHT beim Transformationsprozess zur „Großen Lösung“ insbesondere durch Erfahrungsberichte (Absatz 2). Ein solcher Wissenstransfer ist bei der EUTB nicht vorgesehen.
Die Beratung der Leistungsberechtigten nach § 10b Abs. 1 SGB VIII geht andererseits inhaltlich weiter als die der EUTB: Im Unterschied zur EUTB unterstützt der Lotse den Adressatenkreis bei der „Verwirklichung von Ansprüchen“ (§ 10b Abs. 1 S. 2 SGB VIII). Das bedeutet eine Begleitung für das gesamte Verfahren: vom Antrag bis zur Leistungserbringung sowie im Hinblick auf ein breites Spektrum von Leistungsansprüchen. Die Begleitung nach § 32 SGB IX endet inhaltlich dort, wo es um rechtliche Unterstützung (Widerspruchs- und Gerichtsverfahren) geht, die Beratung bezieht sich ausdrücklich auf Ansprüche nach dem SGB IX.
Für die Jugendämter bedeutet dies, dass die Beratungs- und Unterstützungsbedarfe, die vom Verfahrenslotsen gedeckt werden sollen, nur zu kleinen Teilen auch von der EUTB adressiert werden. Der Verfahrenslotse hat nach der gesetzgeberischen Konzeption insbesondere durch die Unterstützung bei der Geltendmachung von Leistungen aus verschiedenen Sozialgesetzbüchern einen ganz eigenen Wirkungsbereich.
§ 10b Abs. 1 S. 1 und 2 SGB VIII (Inkrafttreten: 1.1.2024, Außerkrafttreten: 1.1.2028)
(1) Junge Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe wegen einer Behinderung oder wegen einer drohenden Behinderung geltend machen oder bei denen solche Leistungsansprüche in Betracht kommen, sowie ihre Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigten haben bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung dieser Leistungen Anspruch auf Unterstützung und Begleitung durch einen Verfahrenslotsen. Der Verfahrenslotse soll die Leistungsberechtigten bei der Verwirklichung von Ansprüchen auf Leistungen der Eingliederungshilfe unabhängig unterstützen sowie auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirken. […]
Anders als in dem neuen § 10a SGB VIII, wird in § 10b SGB VIII der Begriff der Beratung nicht ausdrücklich verwendet. Die in § 10b Abs. 1 SGB VIII genannten Personen haben einen Anspruch auf (unabhängige) Unterstützung und Begleitung sowie darauf, dass der Verfahrenslotse auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirkt. Es stellt sich daher die Frage, ob das Jugendamt trotz dieser Formulierung verpflichtet ist, die Berechtigten auch zu beraten.
In der Begründung zum Regierungsentwurf des KJSG hat der Gesetzgeber seine Auffassung zu dieser Frage deutlich zum Ausdruck gebracht. Der Verfahrenslotse soll danach eindeutig auch ein Beratungsangebot für junge Menschen und deren Familien darstellen, denn dort heißt es: „Der Anspruch auf einen Verfahrenslotsen erweitert den Beratungsanspruch nach § 10a Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII und nimmt auf die fachlichen und verfahrensrechtlichen Herausforderungen aus dem Bereich der Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX und § 35a SGB VIII besondere Rücksicht. […] Der Verfahrenslotse ist in Abgrenzung zu Beratungsangeboten anderer Sozialleistungssysteme explizit auf die Bedarfslagen von Kindern und Jugendlichen spezialisiert. […] Gesetzliche Beratungs- und Unterstützungspflichten der Sozialleistungsträger bleiben unberührt.“ (BT-Drs. 19/26107, 79 f.).
Eine andere Lesart würde auch der Konzeption des Verfahrenslotsen widersprechen, wie sie aus der gesetzlichen Formulierung deutlich wird. Vorgesehen ist eine Unterstützung und Begleitung der Berechtigten über einen potenziell enorm langen Zeitraum hinweg, nämlich von der Antragstellung, über die Verfolgung bis zur Wahrnehmung der erforderlichen Leistungen. In diesem Prozess wird es kontinuierlich dazu kommen, dass auf das Vorgehen und ggf. auf Bescheide der beteiligten (angegangenen) Leistungsträger reagiert werden muss. An diesen Wegmarken wird es immer wieder neuen Beratungsbedarf geben. Eine Unterstützung durch den Verfahrenslotsen bspw. bei der Einlegung eines Widerspruchs gegen die Ablehnung einer beantragten Leistung erfordert ein klares Verständnis des Lotsen von der Rechtslage und gemeinsame (beratende) Überlegungen mit den Betroffenen.
Für die Jugendämter bedeutet das, dass rechtzeitig damit begonnen werden sollte, Personal für diese anspruchsvolle Aufgabe weiterzubilden oder zu gewinnen und sich Gedanken über eine sinnvolle organisatorische Eingliederung in die Struktur des jeweiligen Amts zu machen.
Ab 2028: Stufe 3
§ 10 Abs. 4 SGB VIII (Inkrafttreten: 1.1.2028)
„(4) Die Leistungen nach diesem Buch gehen Leistungen nach dem Neunten Buch vor. Leistungen nach diesem Buch für junge Menschen mit seelischer Behinderung oder einer drohenden seelischen Behinderung werden auch für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung oder mit einer drohenden körperlichen oder geistigen Behinderung vorrangig vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe gewährt. Das Nähere über
1. den leistungsberechtigten Personenkreis,
2. Art und Umfang der Leistung,
3. die Kostenbeteiligung und
4. das Verfahren
bestimmt ein [nach § 107 Abs. 1 S. 3 SGB VIII bis zum 1.1.2027 zu erlassendes] Bundesgesetz auf Grundlage einer prospektiven Gesetzesevaluation.“
Das KJSG sieht zwar die Gewährung von Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung aus einer Hand ab 2028 vor, legt die konkrete Ausgestaltung der entsprechenden Vorschriften – abgesehen vom grundsätzlichen Vorrang der Jugendhilfe – aber noch nicht fest. Die Umsetzung hängt daher noch von dem spätestens bis zum 1.1.2027 zu erlassenden Bundesgesetz ab. Die Grundlage dafür soll eine vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in den Jahren 2022 bis 2024 durchzuführende Untersuchung sein (vgl. dazu § 107 Abs. 2 SGB VIII).
Der Gesetzgeber hat durch die neuen Regelungen im KJSG seinen politischen Willen bekundet, die Forderung nach der Großen Lösung umzusetzen. Da einem künftigen Gesetzgeber die Schaffung eines bestimmten Gesetzes nicht rechtsverbindlich aufgegeben werden kann, hätte eine verlässliche Weichenstellung nur durch das Ausformulieren der nun noch fehlenden Regelungen unmittelbar im KJSG erfolgen können. Gerade das war aber – zumindest in fachlich ausgewogener Weise – im bisherigen Reformprozess nicht möglich. Dennoch wurde mit dem KJSG verbindlich ein Prozess auf den Weg gebracht, der die gesetzliche Umsetzung vorbereitet (zB die geplante Umsetzungsbegleitung des BMFSFJ), sodass eine ausdrückliche Abkehr von den formulierten Reformzielen durch den späteren Gesetzgeber mit hohen politischen Kosten verbunden wäre.
Für die Jugendämter bedeutet dies, dass es sich trotz der beschriebenen Unsicherheiten lohnt, die vielfach bereits begonnenen Anstrengungen zu einer inklusiven Ausrichtung der Jugendhilfe weiterzuführen. Aktive Vorbereitungen seitens der Jugendämter und frühzeitige Maßnahmen zur Ausrichtung der kommunalen Strukturen auf eine einheitliche Leistungserbringung könnten sogar ein zentrales Druckmittel sein, um dafür zu sorgen, dass der Gesetzgeber des Jahres 2026 den Reformfahrplan des KJSG nicht torpediert.
Beratung in „verständlicher, nachvollziehbarer und wahrnehmbarer Form“
§ 8 Abs. 4 SGB VIII
(4) Beteiligung und Beratung von Kindern und Jugendlichen nach diesem Buch erfolgen in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form.
§ 10a Abs. 1 SGB VIII
(1) Zur Wahrnehmung ihrer Rechte nach diesem Buch werden junge Menschen, Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigte […] in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form […] beraten.
§ 36 Abs. 1 S. 2 SGB VIII
(1) […] Es ist sicherzustellen, dass Beratung und Aufklärung nach Satz 1 [vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe] in einer für den Personensorgeberechtigten und das Kind oder den Jugendlichen verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen.
§ 41a Abs. 1 SGB VIII
(1) Junge Volljährige werden innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbständigung im notwendigen Umfang und in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form beraten und unterstützt.
§ 42 Abs. 2 S. 1 SGB VIII/§ 42 Abs. 3 S. 1 SGB VIII
(2) Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen [und nach § 42 Abs. 3 S. 1 SGB VIII die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten] umfassend und in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form über diese Maßnahme [die Inobhutnahme] aufzuklären, […].
Die Amtssprache ist – auch im Sozialrecht – deutsch (§ 19 Abs. 1 S. 1 SGB X). Ein allgemeiner Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Verwendung von Kommunikationshilfen, wie zB ein*e Gebärdendolmetscher*in, besteht für Menschen mit Beeinträchtigungen beim Sprechen und/oder Hören (§ 17 Abs. 2 SGB I, § 19 Abs. 1 SGB X). Vergleichbares gilt aber nach überwiegender Meinung in Literatur und Rechtsprechung nicht für den Einsatz eines*einer Sprachmittler*in für nicht deutschsprachige Leistungsberechtigte (gegen eine analoge Anwendung des § 17 Abs. 1 SGB I auf Sprachdolmetscher ausdr. LSG NRW 31.8.2006 – L 7 VG 9/05; BeckOK/Merten Sozialrecht, Ed. 59, Stand: 1.1.2020, SGB I § 17 Rn. 17). Auch eine analoge Anwendung des § 185 Abs. 1 S. 1 GVG, der die Hinzuziehung eines*einer Dolmetscher*in im Gerichtsverfahren regelt, scheidet aus (Münder Sprachmittlung als Teil der Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe. Rechtsexpertise, 2016, 15, abrufbar unter: www.bvktp.de/media/drk_sprachmittlung_kijuhilfe_2016_bf_1.pdf).
In der Begründung zum Regierungsentwurf des KJSG finden sich keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber die Hinzuziehung eines*einer Dolmetscher*in ausdrücklich im Blick hatte. In Bezug auf § 8 Abs. 4 SGB VIII-E wird neben einem allgemeinen Hinweis auf die Erfordernisse des jeweiligen Einzelfalls auf Beratung in „leichter Sprache“ hingewiesen (BT-Drs. 19/26107, 74). Angesichts der zentralen Bedeutung des differenzierten Gesprächs zwischen Fachkraft und jungen Menschen und ihren Familien wurde aber für die Jugendhilfe in vielfältigen Zusammenhängen schon nach der Rechtslage vor dem KJSG angenommen, dass ein Anspruch auf Einsatz eines*einer Dometscher*in und die Übernahme der Kosten durch das Jugendamt bestehen kann, wenn der Einsatz für die effektive Erbringung der Leistung bzw. die Erfüllung der Aufgabe erforderlich ist (vgl. dazu ausf. und differenzierend Münder Rechtsexpertise).
Spätestens seitdem die weite Formulierung „verständlich, nachvollziehbar und wahrnehmbar“ ins Gesetz eingefügt wurde, kann nach Auffassung des Instituts ein Anspruch auf Übertragung der im Rahmen der Beratung oder Aufklärung ausgesprochenen Informationen in eine dem*der Empfänger*in verständliche Sprache – jedenfalls in den genannten Beratungszusammenhängen – nicht mehr ausgeklammert werden. Vor dem Hintergrund der mit der gesetzlichen Klarstellung verfolgten Ziele, die Subjektstellung und die Partizipationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, erscheint die Überwindung dieser Form der Verständnisbarriere ebenso unabdingbar wie bei Einschränkungen etwa des Seh- oder Hörvermögens. Für die Jugendämter bedeutet dies, dass einerseits nicht unerhebliche finanzielle Ressourcen eingesetzt werden müssen und außerdem die Herausforderung zu meistern ist, hinreichend qualifizierte Dolmetscher*innen zu finden, die die Aussagen der Fachkraft mit der erforderlichen Sensibilität in angemessene Worte übertragen.
Pooling-Lösungen bei Assistenzleistungen in Kitas
§ 27 Abs. 3 S. 3 SGB VIII
(3) […] Die in der Schule oder Hochschule wegen des erzieherischen Bedarfs erforderliche Anleitung und Begleitung können als Gruppenangebote an Kinder oder Jugendliche gemeinsam erbracht werden, soweit dies dem Bedarf des Kindes oder Jugendlichen im Einzelfall entspricht.
Die neue Regelung in § 27 Abs. 3 S. 3 SGB VIII soll „die gemeinsame Inanspruchnahme von Leistungen zur Anleitung und Begleitung im Bildungsbereich im Rahmen der Hilfen zur Erziehung“ ermöglichen, soweit dies „dem individuellen Bedarf des jungen Menschen entspricht“ (KJSG-Referentenentwurf, 92). Über die Zulässigkeit von sog. Pooling-Lösungen, dh einer gemeinsamen Leistungserbringung für mehrere Berechtigte, wurde schon vor dem KJSG im Zusammenhang mit Schulbegleitungsleistungen für Kinder mit Behinderung ausführlich diskutiert (vgl. Grünenwald/Rössel JAmt 2019, 598 [602]; DIJuF-Rechtsgutachten DRG-1165, Stand: 26.5.2015, abrufbar unter www.kijup-online.de). Uneinigkeit gibt es ua darüber, ob die im SGB IX ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit, Leistungen zur Teilhabe an Bildung (§ 112 SGB IX) im Rahmen des Zumutbaren auch für mehrere Leistungsberechtigte gemeinsam zu erbringen (§ 112 Abs. 4 SGB IX), auf Schulbegleitungen für seelisch behinderte Kinder nach § 35a SGB VIII vollständig übertragbar ist oder im Hinblick auf das Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII modifiziert werden muss (dagegen BeckOK/Winkler SGB VIII, Ed. 58, Stand: 1.9.2020, SGB VIII § 35a Rn. 31). Die Begründung zu § 27 Abs. 3 S. 3 SGB VIII deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber im Bereich der Eingliederungshilfe bereits von einer Parallelität der Regelungen zur gemeinsamen Erbringung von Schulbegleitungsleistungen für seelische und geistig/körperlich behinderte Kinder ausgeht (BT-Drs. 19/26107, 82).
Die rechtlichen Argumente, die in der Diskussion um Pooling-Lösungen im Bildungsbereich im engeren Sinn (Schule und Hochschule) aufgeworfen werden, gelten grundsätzlich auch im Zusammenhang mit Assistenzleistungen in Kitas (vgl. zum Anspruch auf Assistenz in der Kita nach §§ 53f SGB XII aF iVm § 55 Abs. 2 SGB IX aF: LSG Nds-Brem 27.8.2015 – L 8 SO 177/15 B ER mit Verweis auf LSG NRW 27.8.2013 – L 9 SO 211/13 B ER; LSG BW 17.10.2018 – L 7 SO 3150/18 ER-B; seit 1.1.2020 als Leistungen zur Sozialen Teilhabe nach [§ 35a Abs. 3 SGB VIII iVm] § 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX). Bei Leistungen zur Sozialen Teilhabe, denen Assistenzleistungen in Kitas zuzuordnen sind, gelten nach § 116 Abs. 2 S. 1 SGB IX für die gemeinsame Erbringung an mehrere Leistungsberechtigte die gleichen Voraussetzungen wie bei der Teilhabe an Bildung (Zumutbarkeit und bestehende Leistungsvereinbarungen mit den Leistungserbringern).
Allerdings dürfte es in der Praxis im Kitabereich noch häufiger als in der Schule vorkommen, dass ein*e einzelne*r Kitabegleiter*in nicht den Hilfebedarf mehrerer Kinder decken kann.
Denn anders als im Schulunterricht, der auf ein einheitliches, von der Lehrkraft gesteuertes Geschehen ausgerichtet ist, ist es in Kitas vielfach üblich, dass die Kinder zwischen unterschiedlichen (ggf. auch räumlich getrennten) Spiel- und Beschäftigungsmöglichkeiten wählen können (vgl. dazu LSG RhPf 20.9.2017 – L 1 SO 142/17 B ER).